Here we go again! – Schüleraustausch nach Wisconsin – Teil 1

Vor dem Fenster ist es dunkel, die Straßenlaterne spendet sanftes gelbliches Licht in die Baumkronen als ich die Augen öffne, um aufzustehen. Aufzustehen um eine lange Reise anzutreten, ab jetzt liegen einige Stunden weg vor uns.

Der Nebel streicht um die Ecken und die Straßenschilder, als ich kurz nach 5 Uhr in Richtung Schule aufbreche, um dort auf unsere Reisegruppe zu treffen. Nebel, überall Nebel… Auf dem Parkplatz an der Schule schälen sich Menschen mit Koffern aus dem Nebel. Ob die Verspätungen beim Eintreffen dem Nebel geschuldet sind? Ich möchte ja nicht unken, aber der Kollege spricht bereits von einem schlechten Omen. So weit will ich dann doch nicht gehen, auch wenn gleich zum ersten Treffpunkt zu spät auftauchen nicht der beste Einstieg ist. Leider zieht sich das mit den Verspätungen so durch. Das zweite Taxi taucht erst auf, als die andere Hälfte der Gruppe schon am Flughafen aus dem Taxi steigt. (So nebenbei: Meiner Anspannung und Grundnervosität tut sowas nicht gut! Ganz und garnicht!)

Aber wir sind noch immer gut in der Zeit und ausnahmsweise gibt es keine großen Diskussionen, ob wir mit den Schülern am Schalter einchecken dürfen. Zum zweiten Treffpunkt sind dann auch alle überpünktlich, die Passkontrolle verläuft problemlos, der Sicherheitscheck ebenfalls. Abgesehen davon, dass natürlich wieder eine Person aus unserer Gruppe zur erweiterten Sicherheitskontrolle muss, aber wir bekommen sie wohlbehalten wenige Minuten später zurück. Der Weg in die Maschine verläuft problemlos und alle kommen gut unter. Zum Glück ist die Maschine nicht voll ausgelastet, entspannt die Atmosphäre. Dafür haben wir ein Kleinkind in unserer Nähe das schon schreit bevor der Flug beginnt, kann ja heiter werden. Ach, der Nebel… Hat er mich schon den ganzen Morgen begleitet so ist er auch jetzt noch bei uns und zwar so massiv, dass wir rund 40 Minuten im Flieger sitzen um auf ein Slot für den Start zu warten. Zieht sich… Zum Glück kann man das Bordentertainment schon nutzen, denn zum Lesen bin ich viel, viel zu müde und auch die Schüler sind zwar aufgedreht aber nicht ganz wach irgendwie. Bis auf zwei (der Unachtsamkeit geschuldeten) Getränkeunfälle während des Fluges verläuft der Flug vollkommen unspektakulär. Das Einzige was ich bisher glaub noch nie erlebt habe beim Flug in die USA sind Schüler die während des Fluges ein Kartenspiel auspacken und UNO spielen, finde ich sehr sympathisch! (So nebenbei: Ich finde die Gruppe bisher sehr sympathisch und außer die kleinen Startschwierigkeiten…)

Ich frage mich ja immer wieder warum die Amerikaner so komische Formulare haben und keiner so wirklich weiß, wie sie ausgefüllt werden sollen. 5 Leute gefragt 14 unterschiedliche Meinungen und am Ende ist es eh abhängig von der Laune eines amerikanischen Zollbeamten. Aber gut, wir füllen das Formular aus und schauen was passiert.
Mit Verspätung gestartet landen wir mit Verspätung und die Verspätung wird noch größer, da das „Parkleitsystem“ am Chicago Airport außer Betrieb ist. Bis ich endlich aus dem Flieger komme sind der Kollege und 13 Schüler verschwunden und so werden der eine Schüler und ich auch vom wenig freundlichen Flughafenpersonal den Korridor entlanggescheucht. Schnell finde ich mich mit einem Schüler im Labyrinth aus Absperrbändern auf dem Weg zur Immigration und ich sehe immerhin einen anderen Schüler. Keine 5 Minuten nach Verlassen des Fliegers stehe ich an den Automaten für die Immigration, zusammen mit zwei weiteren Schülern die dort gestrandet sind. (So nebenbei: Die Immigration ist für mich der aller, aller, aller schlimmste Teil der ganzen Reise. Ich habe Herzrasen, schweißnasse Hände und jetzt ist auch noch der Kollege mit den Schülern weg. PANIK!)
Direkt hinter uns das Kabinenpersonal unseres Fluges welchen den drei Jungs ganz schnell durch die Formalitäten der Computeroberfläche hilft. Warum ich jetzt nochmal ein ähnliches Formular am Computer ausfüllen muss wie im Flieger ist mir ein Rätsel, die Informationen und die Fragen sind ähnlich aber doch anders, auch wollen sie weniger wissen. Seit dem Verlassen des Fliegers bis zu Gepäckausgabe habe ich mit den drei Schülern jetzt keine 15 Minuten gebraucht. So schnell, freundlich und problemlos habe ich es in all den Jahren nicht erlebt, ich bin positiv überrascht. Bis ich den Kollegen und die anderen 10 Schüler treffe dauert es allerdings noch über 30 Minuten, sie wurden in einen anderen Bereich der Immigration geleitet und hatten wohl auch eher das unfreundlichere Personal.

Immerhin ist das Gepäck vollständig und unbeschädigt, sehr erfreulich. Die Zollbeamtin ist vollkommen überfordert mit der Masse an Menschen und sie will nur schnell die Computerausdrucke über die Dinge die wir mitbringen und scheucht uns sofort weiter „Don’t stop!“. Wie gut, dass ich zweimal ein Formular ausgefüllt habe, gefühlt 10 Webseiten besucht habe inklusive der des US Zolls um rauszufinden, was ich jetzt deklarieren muss und was nicht. Schlaflose Nächte und Befürchtungen für ein „Dont‘ stop“ und keinen Blick auf den Zettel. Aber jetzt stehe ich mit 14 Schülern, dem Kollegen, allen Gepäckstücken, meinem Christstollen und all den anderen lustigen Dingen vor dem Flughafen in Chicago und wir warten auf den Bus. Wir nutzen die Zeit und beobachten das Verkehrschaos aus Taxen, PKWs und Bussen während uns der Schweiß auf der Stirn steht. Nach dem klimatisierten Flug und Flughafen erwischt uns die Luft wie ein Vorschlaghammer: 30°C und einer Luftfeuchtigkeit von rund 90%; pfui… Und dann geht es mit dem Bus (einem Gefrierschrank auf Rädern – die Amis und ihre Klimaanlagen) durch den Berufsverkehr in Richtung Manitowoc, dem Ziel unserer Reise. Es ist eine Mischung aus überdrehten Teenagern, Schlafwagen, Kühltransporter und Spielplatz (da war das Kartenspiel wieder). (So nebenbei: Mein Puls und mein Blutdruck haben sich normalisiert, die Panik Kopfschmerzen sind weg und ich kann zum ersten Mal seit 24 Stunden tief und entspannt durchatmen.)

Nach einer stop and go Fahrt durch den Berufsverkehr um Chicago, rund um Milwaukee und entlang der gesamten I43 erreichen wir Manitowoc. War es bis dahin sehr ruhig gewesen im Bus schwillt der Geräuschpegel schlagartig an, als der Turm der Lincoln High sichtbar wird und erreicht fast tumultartige Ausmaße als wir auf den Parkplatz einbiegen und die Gastfamilien entdeckt werden. Keiner will zuerst den Bus verlassen, alle drücken sich hinter dem Bus rum um das Gepäck zu holen, die Anspannung ist spürbar. Mit einem lauten quietschenden Knall der Freude löst sich die Spannung schlagartig und die Begrüßungsorgie beginnt. Es dauert keine fünf Minuten und der Parkplatz ist leer. Naja, fast. Einer unserer Schüler steht ziemlich verloren mit seinem Koffer und unabhängig voneinander muss er sich vom Kollegen und mir den gleichen blöden Spruch anhören. Das geht ja schon wieder gut los mit uns. Keine zwei Minuten später ist auch er abgeholt, seine Hostmum stand auf dem falschen Parkplatz.
Jetzt nur noch was essen, duschen versuchen noch zwei, drei Stunden wach zu bleiben und dann schlafen, ich bin durch.

Wer sich jetzt meine langatmige Beschreibung über die Vorzüge der Ausstattung, des Gebäudes und des Systems hier, inklusive einiger böser Kommentare ersparen möchte kann jetzt getrost mit dem Lesen aufhören und auf Bericht Nr. 2 warten. (So nebenbei: Nichtsdestotrotz sind die Absätze sicher irgendwie unterhaltsam)
Es ist immer wieder eine tolles Gefühl die Lincoln High zu betreten. Das älteste in Betrieb befindliche Schulgebäude des Staates Wisconsins und vor zwei Jahren auch zur schönsten Schule des Staates gewählt, thront auf einem Hügel über der Stadt und ihr Turm ragt auf wie eine Fackel. So heißt es auch in einem Gedicht über die Schule „Lincoln shining torch of learning“.

Unser Besuch an der Lincoln beginnt mit einer offiziellen Begrüßung durch den Schulleiter im Auditorium der Schule. Wir sprechen hier nicht von einer Aula oder etwas ähnlichem, viel mehr ein Saal der mit seiner Ausgestaltung, Akustik und Historizität viele deutsche Theater vor Neid erblassen lassen würde. Hier beginnt unsere Führung durch die Schule um eine erste Orientierung/einen ersten Eindruck für die Schüler zu erhalten. Man kann und mag ja vom amerikanischen Schulsystem halten was man möchte, aber die Möglichkeiten zur beruflichen Vororientierung sind hier absolut nicht mit den unseren Vergleichbar. Eine Küche, dreimal so groß wie unsere in Seligenstadt, in welcher ein ehemaliger Chefkoch alles rund um Lebensmittel, Kochen und Hauswirtschaft vermittelt. Eine Holzwerkstatt die mit ihrer Ausstattung und der fachlichen Besetzung einer großen Schreinerei bei uns gleichkäme. Wir dürften Schüler in Deutschland vermutlich nicht einmal die Maschinen zeigen ohne vorher zig Schulungen, Sicherheitsunterweisungen und Gefährdungsbeurteilungen abzuarbeiten. Ähnlich ist es mit den Klassen für Metallverarbeitung, KFZ und Engineering. Aber auch für technisches Zeichen und Konstruieren gibt es hier Fachräume und wirkliches Fachpersonal, welches aus der Materie kommt und diese entsprechend anders vermitteln kann.

Der Weg führt weiter durch die enormen Sportanlagen der Schule. Selbst in die kleine Halle passt unsere Sporthalle zweimal rein. In der großen hätten wir die kompletten Bundesjugendspiele abhalten können (So nebenbei: Ich hoffe liebe Schüler und Kollegen ihr habt diese erfolgreich und trocken überstanden!). Schwimmen und Kajak fahren in der Schule? Hier kein Problem im schuleigenen Pool mit Gegenstromanlage.
Naturwissenschaftsunterricht mit Laborarbeitsplätzen getrennt vom Unterrichtsbereich? Hier kein Problem! Integration von beeinträchtigten Schülern in den Schulalltag? Läuft. Die „Special Aid“ Klassen sind mitten in der Schule und werden weitestgehend einbezogen. Lernhilfe Beschulung erfolgt hier wirklich 1 zu 1 mit entsprechendem Personal und nicht so ein Gemurks wie bei uns. Auch hier werden finanzielle Ressourcen knapper, aber immerhin wird hier nicht zu Lasten der Schüler und Lehrkräfte gespart! (So nebenbei: Ja, ich verbrenne mir öfter mal den Mund mit kritischen Aussagen).

Klassenräumen? Großzügig geschnitten und durch das Fachlehrer-Fachraum Prinzip sind alle Räume entsprechend ausgestattet, dekoriert und es ist immer alles da, was für den Fachunterricht benötigt wird. Gilt bei uns leider als „unmachbar“… (So nebenbei: Es wäre sicher definitiv machbar, aber das würde Geld kosten und man müsste einige alte Zöpfe abschneiden, aber ich verbrenne mich schon wieder..). Der Laptop als Arbeitsplatz für die Lehrkräfte und ein Beamer in jedem Klassenraum sind hier schon alte Hüte. Ebenso wie der Schuleigenen IT-Support, digitale Klassenbücher und Schulakten. Neu sind dieses Mal die flächendeckende Ausstattung aller Klassenräume mit Smartboards (selbstverständlich zusätzlich zur bisherigen Ausstattung und der klassischen Tafel) und die Tatsache das alle Schüler ab einer bestimmten Jahrgangsstufe einen eigenes Notebook (die Dinger in Din A4 Größe) vom Staat erhalten…

Selbst die Reinigung des Gebäudes erfolgt hier kontinuierlich, den ganzen Tag trifft man irgendwo im Gebäude auf Menschen die Mülleimer leeren, die Toiletten wischen, Papierhandtücher nachfüllen o.ä.
Die Voraussetzungen hier scheinen mir hier wieder einmal optimal, aber arbeiten wollte ich hier trotzdem nicht dauerhaft. Es ist doch ganz schön in Deutschland jeden Tag einen anderen Stundenplan zu haben, seine zwei – drei unterschiedlichen Fächer zu haben, einen 45 Minuten Rhythmus. Schwer zu glauben, aber auch unser Schulsystem hat (manchmal) seine Vorzüge.

Nach unserem Rundgang durch die Schule finden wir uns im Klassenraum für Deutsch ein. Von hier aus werden unsere Schüler von ihren Gastschülern zum normalen Unterricht abgeholt und schnell sind sie verschwunden, um ihren ersten Schultag an der Lincoln High zu erleben.