Wisconsin – Here we are!

Es ist sehr dunkel in der Einhardstraße an diesem doch sehr frühen Morgen. Die Parkplatzbeleuchtung ist aus und so kann man nur vermuten, ob jemand im Auto sitzt Oder nicht. Nach und nach schälen sich Gestalten mit Koffern aus der Dunkelheit und sammeln sich am Rand zur Straßenbeleuchtung. Von dort aus haben wir einen wunderbaren Blick auf das Schulgebäude, in welchem ständig neue Lichter an und wieder aus gehen. Wir einigen uns auf einen Schulgeist.  

Während alle Reisenden pünktlich sind, sind es die Taxen zum Flughafen nur so vage. Mal davon abgesehen sind sie sehr klein. Es dauert eine ganze lange Weile des Koffertetris bis alle Koffer unter sind. Einige davon auch auf, unter, oder neben den eng Sitzenden. Ein letztes Winken und die Taxen rauschen in der Nacht davon – eines davon trotz Hinweis erstmal in die falsche Richtung. Einen groooßen Bogen später gelangt aber auch jenes Taxi auf die Autobahn zum Flughafen. 

Wir haben ja alle unsere Koffer gewogen vor dem Abflug, wie kann es eigentlich sein, dass jedes unserer Gepäckstücke rund 2,5kg schwerer ist als auf der heimischen Waage? Aber sie gehen alle durch und wir sind auch zügig an Pass und Sicherheitskontrolle vorbei. Im Wartebereich am Gate fällt schon auf, dass sie zum einen alle sehr müde sind, aber zum anderen auch noch keine einheitliche Gruppe. So sitzen sie weit auseinander in Zweier- und Dreiergruppen zusammen, unterhalten sich leise, sind am Handy einer liest ein Buch. Ein Buch? Das ist mir schon lange nicht mehr begegnet auf Fahrten mit Schülern – ich freue mich innerlich. 

Der Flug dümpelt so an uns allen vorbei. Einige schlafen über weite Teile, manche gefühlt sogar mit offenen Augen. Andere fröhnen dem Bordentertainment, ihrer Musik oder dem meditativen Blick auf die Flugroutenanimation. (Zeitsprung) 

“Welcome to the United States of America” – so glorreich ist der Empfang erst einmal nicht. Der Flughafen ist in weiten Teilen eine Baustelle und wir laufen und laufen an mit Folien angeklebten Teilen unter offenen Decken. Gefühlt so schnell wie noch nie sind wir an der Immigration. Zack – der Kollege ist durch. Zack – Zack – Zack sind die Schüler durch. Ich hätte mir den Gedanken “das läuft aber super heute” schenken sollen. Gute fünf Minuten löchert mich die Dame am Schalter. Ich weiß zwar die Anschrift meiner Gasteltern aus dem Kopf, aber zufrieden ist sie dennoch nicht. Irgendwann darf ich aber dann endlich einreisen. 

Das Gepäck ist alles da, die Schüler sind alle da, sie haben alle brav ihre Brustbeutel mit dem Pass und der Zollerklärung umhängen. Weiter geht es Richtung Zoll, alle Schüler halten dem Zollbeamten den Zettel hin und dürfen einfach weiter. Ich bin der, der befragt wird. Was ist denn bloß los? Wir sind draußen und unser Bus wartet bereits auf uns. Aber wie sollte es anders sein, alle guten Dinge sind drei… Mein Handgepäckkoffer ist noch hinter der Sicherheitskontrolle. Merke: Überlasse müden Schülern niemals ein Gepäckstück nur weil sie eine freie Hand haben. Knapp 30 Minuten und 10-100 graue Haare später ist der Koffer vom Sicherheitspersonal gefunden und bei mir. Jetzt habe ich wenigstens auch welche die nicht die Namen von Schülern tragen. Ab in den Bus und jetzt Richtung Manitowoc. (Zeitsprung) 

Wie jedes Mal, wenn der erste Blick auf die Lincoln High fällt, kann man Laute des Erstaunens hören und plötzlich herrscht eine Anspannung im Bus die mit Händen zu greifen ist. Nach einem Zögern sind dann alle ganz schnell draußen und angeblich haben sie alles mitgenommen. Ich hänge mir dieses “hübsche” Exemplar einer Männerhandtasche mal um und schaue, ob ich den Besitzer finde. Schnell sind alle Schüler weg (inkl. der Handtasche) und auch unser Gepäck ist verstaut. Da der Schultag noch nicht rum ist geht es nochmal in den Unterricht. Es fühlt sich an wie heimkommen für den Kollegen und mich. Immerhin dürfen wir jetzt zum 6. Mal eine Gruppe in die USA begleiten. Der am längsten ununterbrochen laufende Schüleraustausch zwischen dem Staat Wisconsin und dem Land Hessen geht in die nächste Runde. Vor 30 Jahren waren zum ersten Mal Schüler aus Seligenstadt an der Lincoln High. 

Der nächste Morgen startet etwas holprig an der Lincoln. Ein Lehrer ist überraschend verstorben, die Schulleitung am rotieren und umplanen. Zur Betreuung von Schülern und zum Auffangen von sonstigen Arbeiten hat man spontan pensionierte Kollegen für den Tag “zurückgeholt”. So erfolgt unsere Begrüßung an der Lincoln durch den ehemaligen Schulleiter, so ehemalig, dass wir ihn nicht kennengelernt haben. Aber er hat gute Erinnerungen an unseren Vorgänger aus Seligenstadt Martin Fleck.  

In der beeindruckenden Schulaula (es gibt zahlreiche historische Theater in Deutschland die nicht so schön sind) erfolgt unsere Begrüßung. Mein Kollege kann es sich natürlich mal wieder nicht verkneifen unsere Schüler ein wenig zu veralbern, aber daran müssen sie sich jetzt gewöhnen.  
Auch im 6. Durchgang ist die Schule ob ihrer Größe und Ausstattung noch immer beeindruckend. Neben den “normalen Fächern” können die Schüler hier auch Kurse in Kinderpflege, Automobiltechnik, Metall- und Holzarbeiten, Konstruktion, Programmieren und vielem anderen Wählen, je nach ihrem Plan für die Zukunft. Alles bei Fachkräften die davon Ahnung haben und aus der Praxis kommen. Das ist mal eine Form der Berufsvorbereitung und -orientierung, von der wir bei uns nur träumen können!   

Schwimmbad, Schulladen (T-Shirts usw.) Sporthallen, Gym oder Kunstatelliers gefühlt gibt es hier nichts, was es nicht gibt. Das alles kombiniert mit diesem altehrwürdigen Gebäude in welchem locker auch ein US-Highschoolfilm gedreht werden könnte. Eine würdige Kulisse wäre es sicher, wurde die Lincoln doch 2019 zur schönsten Schule des Bundesstaates gewählt. Ein Teil der Schule, welcher sie weithin sichtbar macht, ist das nächste Ziel unseres Rundganges, der Turm. Für die breite Masse gesperrt dürfen wir doch hinaufsteigen und über Stadt und See blicken, was ein Ausblick. Auf dem Weg nach oben dürfen wir noch ganz offiziell unsere Namen auf einen der Steine des Turms schreiben und so unsere Spuren hinterlassen. 

Nach der Tour durch die Schule beginnt für uns der Schultag an der Lincoln und wir alle gehen in unsere Klassen und Kurse. Am Abend sehen wir sie fast alle wieder, aber diesmal mit ihren Gasteltern und Gastgeschwistern. Der traditionelle Potlucksupper. In den Räumen des Maribel Sportsman Club haben wir die Möglichkeit zusammen zu essen und die Gasteltern ein wenig kennenzulernen und auch persönlich für die Aufnahme unserer Schüler zu danken. Eine der Gastfamilien hat bereits 2017 Schüler beherbergt und hat gerne wieder Seligenstädter aufgenommen. Ein schönes Wiedersehen. 

Der Mittwoch birgt einen ganz regulären Schultag für uns alle. War ich früher neidisch auf die Ausstattung, so bin ich es heute nicht mehr. Unsere neuen Tafeln sind einfach besser. Auch unsere Tagesrythmus ist einfacher. Unsere Stunden sind immer gleich lang, hier sind sie mal 43 Minuten, mal 87. An manchen Tagen aber auch mal anders. Die Pausenzeiten fürs Mittagessen sind nach Stockwerken eingeteilt, es ist verwirrend. Für uns undenkbar, die Schüler sind fast ständig am Handy. In den Pausen wäre mir das ja auch egal, aber im Unterricht? Aber gut, hier können /müssen die Schüler auch vieles direkt an ihrem (staatlich geförderten) Laptop bearbeiten. Es gibt eine Art Schulportal für alles: Lerninhalte, Anwesenheit, Entschuldigungen, digitale Schülerakten, online Stundenpläne, und noch viele Dinge mehr. Da ist unser Schulportal noch kilometerweit von entfernt. Gibt es etwas, worauf ich noch neidisch bin, also neben dieser gelungenen Digitalisierung? Oh ja! Ich liebe das Fachraumprinzip! Jeder Lehrer hat einen Fachraum, den er nach seinen Wünschen und Vorstellungen einrichtet. Zu den Stunden kommen die Schüler in den Fachraum, ein Traum. “Stillbeschäftigung”? Das ist hier wirklich still, weil unbeaufsichtigt ist niemand, aber still müssen sie sein. Gut, sie sind eh alle am Handy, bis auf die wenigen Ausnahmen, die ein Buch besitzen oder tatsächlich an ihren Schulsachen arbeiten. Irgendwann endet der Tag und wir können vom Fenster aus die endlose Karavane der Elterntaxis beobachten, die ihre Lieben morgens direkt vor der Tür absetzen, jetzt natürlich auch genau dort wieder einsammeln. Wie hübsch… 

Genug für heute.  

Aber ganz aktuelle Einblicke bietet der Instagramaccount: Schuleraustausch.merianschule  
(Nein, es ist kein Tippfehler)